"Es gibt in den USA nicht bessere Mediziner, aber viel mehr gute Vorbilder."

"Heidoskop"-Interview mit Prof. Dr. med. Ronald Cohn

    Wie sind Sie zur Medizin gekommen?
    Im Grunde über meinen Großvater. Er war ein Arzt, den es heute eigentlich gar nicht mehr gibt. Er praktizierte mehr oder weniger in seinem Wohnzimmer. Hin und wieder nahm er mich in seine Praxis mit. Das hat mir immer besonders gut gefallen. Ich habe auch eine seiner Eigenschaften übernommen: Da er sich keine Namen merken konnte, waren bei ihm immer alle "Schätzchen" und "Süße". Als kleiner Junge hat mich das unwahrscheinlich angesprochen, weil ich das sehr liebenswürdig fand (lacht). Mit ungefähr 16 wollte ich mich versichern, dass der Arztberuf der richtig für mich ist. Ob sie das jetzt drucken wollen oder nicht überlasse ich Ihnen, aber ich war ein sehr schlechter Schüler im Gymnasium und anhand meiner Noten war nicht von Anfang an klar, dass ich es ins Medizinstudium schaffen würde. Dennoch war ich davon überzeugt, dass die Medizin das ist, was ich machen wollte. Ich habe dann also ein Praktikum im Stadtkrankenhaus gemacht. Was mir dabei immer besonders gefallen hat, war die Interaktion mit den Patienten. Somit verfolgte ich mein Ziel dann auch zielstrebig im Zivildienst. Ich arbeitete in einer Notfallambulanz. Und wie es häufig so ist, die Menschen gehen feiern, fallen betrunken in der Altstadt hin und landeten dann in der Notaufnahme. Ich durfte so viel nähen, dass ich zunächst dachte, dass ich definitiv Chirurg werde (lacht). Letzten Endes bin ich dann durch eine Kombination aus Interview und Medizinertest ins Studium aufgenommen worden. Auch das war nicht so einfach, weil ich im Interview in Düsseldorf Initial versagt habe. Ich saß mit einer Gruppe von Professoren zusammen und wurde gefragt was ich denn eigentlich werden wolle. Ich sagte, dass ich mich sehr freuen würde Arzt zu werden. Die Wissenschaft interessiere mich aber weniger - dies wurde mir angekreidet. Ich musste also einige Hürden nehmen, bis ich zum Medizinstudium kam. Umso größer war die Verblüffung meiner Eltern, als ich mich nach der Studienplatzzusage völlig gewandelt habe. Ich nahm das Leben ernst und habe auch mit dem Lernen begonnen.
    Haben Sie auch mal mit einem anderen Studienfach geliebäugelt?
    Nein. Das habe ich eigentlich nie. Es kam auch nie etwas anderes in Frage und mit meinem Praktikum im Krankenhaus hatte ich mir das einfach nochmals bestätigt. Es war auch nicht so einfach, weil meine heutige Frau zu mir nach Düsseldorf gezogen ist; ich aber einen Studienplatz in Hamburg erhalten hatte. Folglich musste ich dann über mehrere Ecken den Studienplatz tauschen und einigen Aufwand betreiben damit ich das Ganze nicht in den Sand setzen würde.
    Würden Sie Ihren Kindern heute noch raten Medizin zu studieren?
    Ja, auf alle Fälle. Ich muss dazu sagen, dass ich meine Kinder nicht in die Medizin und auch in keine andere Richtung dränge. Mir ist es wichtig, dass sie von alleine herausfinden, was ihnen Spaß macht. Dennoch, ich habe drei Kinder und meine älteste Tochter interessiert sich für Medizin. Auch wenn sie noch ein wenig Probleme damit hat, Blut zu sehen. Man muss jedoch wirklich Medizin studieren wollen, wenn man heute Millionär werden möchte, sollte man lieber etwas anderes studieren.
    In welchem Land würden Sie Ihren Kindern raten, Medizin zu studieren?
    Naja, meine Kinder sind Amerikaner. Die Älteste ist zwar in Düsseldorf geboren. Allerdings war sie neun Monate alt als sie mit uns in die USA gegangen ist. Ich sage immer: "Ich habe amerikanische Kinder mit europäischem Tatsch". Das ist meiner Frau und mir auch immer wichtig. Unsere Kinder sind schon ein wenig anders. Sie sagen immer: "We are European". Wenn ich selbstlos bin, sage ich meinen Kindern natürlich "geht wohin ihr auch immer wollt, um zu studieren". Ansonsten wäre es natürlich sehr schön, wenn sie nahe bei uns bleiben würden.
    Würden Sie ihren Kindern also zu keinem bestimmten Land raten?
    Naja. Ist die Ausbildung in den USA besser als in Deutschland? Ich denke diese Frage lässt sich eindeutig bejahen. Es sind viel weniger Studenten. Alles ist deutlich besser organisiert und man hat vier klar strukturierte Jahre mit viel praktischer Ausbildung. Die Schattenseite ist, dass das Medizinstudium in den USA einfach unglaublich teuer ist. Man muss sich fragen, ob es gerechtfertigt ist, dass hier ein Medizinstudent mit 150.000 - 250.000 $ Schulden seinen Beruf antritt. Man muss überlegen, ob jemand wie Sie oder ich schlechter ausgebildet worden ist. Lohnt es sich wirklich so viel Geld auszugeben. Ehrlich gesagt, ich bin da skeptisch. Es ist eine tolle Ausbildung, die man hier bekommt. Keine Frage. Aber ist sie wirklich so viel Geld wert und ist sie so viel besser? Wie man sehen kann war meine Ausbildung in Essen sehr gut, und ich habe es durchaus geschafft mich hier durchzusetzen.
    Lassen sich mit einem amerikanischen Ärztegehalt diese Schulden nicht deutlich schneller abbezahlen als mit einem deutschen Gehalt?
    Das stimmt nur bedingt. Zwar verdienen meine chirurgischen Kollegen oder Kollegen, die Interventionen betreiben hier am John Hopkins Hospital sicherlich mehr als ein Pädiater/Genetiker. Aber es kommt darauf an, wo man lebt. Wenn man z.B. in New York, Boston oder Los Angelos lebt, verdient man zwar mehr. Aber nicht so viel, dass es die höheren Lebenskosten ausgleichen würde. Ich setze mich viel damit auseinander, da ich in der Lehre und der Curriculumgestaltung beteiligt bin. Natürlich, es gibt viele small-group sessions und die Lehrer empfinden es als eine persönliche Niederlage, wenn Sie das Gefühl haben oder die Rückmeldung bekommen, eine schlechte Lehre gemacht zu haben. Diese Philosophie ist in Deutschland nicht ganz so ausgeprägt. In Deutschland hat man häufig nur Resepkt vor dem Professor und das Prinzip, dass Studierenden eine Möglichkeit haben, konstruktiv Kritik zu üben, habe ich während meines Studiums nicht erlebt. Wovon ich auf jeden Fall überzeugt bin ist, dass die Assistenzarztausbildung - die sog. Residency - in den USA deutlich besser ist als in Deutschland. In Deutschland gibt es eine Menge ausgezeichnete Ärzte, die einen hervorragend Job machen, keine Frage, aber ob sie immer die Hingabe und das Verantwortungsbewusstsein zur Lehre haben... Das bezweifele ich stark, ohne damit jemandem zu nahe zu treten. Wenn mich Leute fragen, was ist der größte Unterschied zwischen Amerika und Deutschland, dann gebe ich meist folgende Antwort: Ich habe zwei Jahre in Essen in der Klinik gearbeitet und habe dort zwei Oberärzte gehabt die meine großen Vorbilder waren. Der eine war der Klinikchef und mein Doktorvater. Er ist zwar heute mehr ein Freund, aber immer noch einer der besten Ärzte, die ich kenne. Dann gab es noch einen Oberarzt in der Klinik, der einfach ein fantastischer Arzt war. Das waren die zwei Ärzte, die ich unwahrscheinlich in mein Herz geschlossen habe. Es waren für mich aber Einzelfälle. Als ich dann hier an die John Hopkins University gekommen bin, habe ich plötzlich mindestens 10 solcher Ärzte um mich herum gehabt. Es gibt in den USA nicht bessere Mediziner, aber viel mehr gute Vorbilder und Menschen, die Freude daran haben einem etwas beizubringen und daran interessiert sind, dass man weiter kommt. Das ist der größte Unterschied.
    Warum sind Sie denn, wenn Sie in Deutschland so hervorragende Vorbilder hatten, dennoch in die USA gegangen?
    Ich habe damals meine Doktorarbeit über Lipidspeichermyopathien bei Kindern gemacht. Ich musste dabei zunächst Kindern Blut abnehmen und anschließend haben wir versucht meine Fragestellung zu beantworten. Am Ende stellten wir einen Statistiker an, der mir geholfen hat meinen Ergebnissen so zu analysieren, dass am Ende etwas interessanter dabei herausgekommen ist. Das hat für mich die Wissenschaft sehr unattraktiv gemacht. Also bin ich zu meinem damaligen Chef gegangen und habe gesagt, dass ich jetzt gerne im Bereich der Basiswissenschaften arbeiten möchte. Mein Chef hat mir geraten, einen Antrag bei der deutschen Forschungsgesellschaft zu stellen und ins Ausland zu gehen. Das Gebiet, welches mich wirklich interessierte, waren die Muskeldystrophien. Da mein Chef beste Kontakte zu Prof. Kevin Campbell in Iowa hatte, zogen meine Familie und ich für drei Jahre in die USA. Das war ein unglaublicher Sprung. Nach diesen drei Jahren Postdoc- Zeit beschlossen wir in den USA zu bleiben. Neben den beruflichen gab es auch ein paar persönliche Gründe: Meine Frau und ich gehören beide der jüdischen Religion an und wollten, dass unsere Kinder in einem Land aufwachsen, indem es einfacher und selbstverständlicher ist eine jüdische Ausbildung zu erhalten. Inzwischen hat sich das auch in Deutschland alles geändert - Es gibt beispielsweise jüdische Schulen. Uns war das einfach sehr wichtig, sodass ich letztendlich einen längeren Karriereweg gegangen bin.
    Gab es für Sie bestimmte Hürden um in den USA einzusteigen?
    Naja, Sie müssen zusätzlich die USMLE Prüfungen Step 1-3 machen und wenn man sich die Option offen halten möchte in den USA zu bleiben, muss man die richtigen Schritte bezüglich des Visums einleiten. Ich habe erst gestern mit jemandem darüber gesprochen. Er hat mich gefragt, ob er das machen sollte. Normalerweise bekommt man ein Visum für die Residency (Assistenzarztausbildung) und muss danach wieder in sein Heimatland. Wenn man mit dem Gedanken spielt in den USA zu bleiben, ist es am sinnvollsten sich um eine Greencard zu bewerben. Das kostet aber einige tausend Dollar und man sollte sich im Klaren sein, ob man das investieren möchte.
    Gibt es Ihrer Meinung nach einen geeigneten Zeitpunkt, um sich auf die USA vorzubereiten?
    Ich denke man sollte das während des Studiums machen. Die amerikanischen Examen sind am einfachsten zu absolvieren, wenn das Wissen aus dem Studium noch frisch ist. Hat man diese lästigen Examen hinter sich gebracht, kann man später mehr Zeit auf das verwenden, was man wirklich machen möchte.
    Auf Ihrer offiziellen Internetpräsenz sind sie als Associate Professor für Neurologie und Pädiatrie aber auch als Fachmann für Genetik ausgewiesen. Wie kann man das verstehen?
    Das Grundprinzip ist, dass man an vielen Universitäten als Genetiker noch zusätzlich ein akademisches Zuhause in einer größeren Disziplin braucht. Deshalb bin ich offiziell Fakultätsmitglied der Neurologie und Pädiatrie. Hauptsächlich arbeite ich aber als Genetiker. Einmal im Jahr arbeite ich aber auch als Ward-Attending im Bereich der Kinderheilkunde und kümmere mich dann um Klinik und Lehre der Allgemeinen Pädiatrie.
    WWie kann man sich Ihre tägliche Arbeit vorstellen?
    Ungefähr alle zwei Wochen arbeite ich in der Klinik. Da sehe ich vorwiegend Patienten mit Muskelerkrankungen. dann kümmere ich mich sehr viel um mein Labor und die Wissenschaft, wo ich auch als Doktorvater von Studenten fungiere und schließlich bin ich noch als Residency Director für Genetik tätig, wo ich mich natürlich auch um meine Fellows zu kümmern. Das zusammen füllt dann ganz gut die Woche.
    Ihr Forschungsschwerpunkt sind die Muskeldystrophien. Wie kamen Sie dazu Erdhörnchen als Modellorganismus zu wählen?
    Vor drei Jahren gab es eine Ausschreibung für innovative wissenschaftliche Ideen vom National Institutes of Health (NIH). Im Prinzip ging es darum, Stipendienanträge zu sammeln, die eine interessante wissenschaftliche Frage stellen und einen ungewöhnlichen Weg zu deren Beantwortung ausgewählt haben. Man brauchte also einfach nur eine gute Idee, ohne, dass man im Vorfeld schon viele Ergebnisse vorweisen musste. Normalerweise ist das ja ganz anders. Da muss man für ein Stipendium schon eine ganze Menge an Daten haben. Das brauchte ich in diesem Fall nicht. Ich musste nur einen 10-seitigen Aufsatz schreiben und die Idee präsentieren. Das mag zwar jetzt ein wenig komisch klingen, aber Bären haben mich schon als Kind sehr fasziniert und in diesem Zusammenhang auch das Phänomen des Winterschlafes. Immer wenn ich im Winter in den Zoo gegangen bin, konnte ich keine Bären sehen, weil diese schliefen. Ich habe mir also überlegt, ob man daraus nicht irgendwie Forschung machen könnte. Schließlich ruhen Winterschlaf haltende Tiere für sechs Monate und entwickeln trotzdem keine Muskelatrophie. Beim Menschen würde eine solch' lange Ruhephase zu einem massivem Muskelschwund führen. Im Prinzip haben diese Tiere die biologische Frage schon gelöst, nach der wir Wissenschaftler suchen (lacht). Ich habe mich dann zunächst erkundigt, welches Tiermodell am einfachsten zu realisieren wäre. Dass man Bären schwierig im Labor halten kann, ist einleuchtend (lacht). Eine Kollegin, die eine Kolonie Winterschlaf haltender Erdhörnchen aufgebaut hatte, half mir schließlich. Es ist natürlich nicht so, als ob ich der erste gewesen wäre, der darüber nachgedacht hat. Aber interessanterweise hat man dieses Tiermodell bis dato eher im Zusammenhang mit der Sauerstoffversorgung der Organe oder der Funktion des Darmtrakts, der sechs Monate nichts zu tun hat und dann gleich voll belastet wird, eingesetzt. Es gibt wissenschaftlich gesehen so viele unglaublich interessante Fragen, sodass ich Glück hatte, dass die Leute bisher noch nicht richtig in die Tiefe gegangen sind und über Erhaltung der Muskelmasse nachgedacht hatten. Ich habe auf jeden Fall den Antrag gestellt und das Geld in Höhe von 1,5 Millionen Dollar bekommen. Damit konnte die Forschung am Erdhörnchenmodell und den Muskeldystrophien eine andere Dimension bekommen. Ich muss sagen, diese Forschung ist schon wahnsinnig spannend. Wir haben z.B. ein neues Protein entdeckt, dass mit Winterschlaf und Muskelerhalt zusammenhängt und bisher nur in der Niere und im Gehirn von nicht Winterschlaf haltenden Tieren bekannt war. Im Weiteren haben wir im Mausmodell festgestellt, dass dieses Protein wirklich eine wichtige Rolle für die Verhinderung des Muskelschwunds spielt. Inzwischen haben wir sogar ein Patent. Die Frage bleibt natürlich, welche therapeutische Relevanz dem Protein zukommt. Biologisch gesehen ist es aber dennoch eine sehr interessante Entdeckung.
    Was war denn bisher das absolute Highlight und die größte Enttäuschung in Ihrer Forscherlaufbahn?
    Ah, das ist aber eine schwierige Frage. Ich denke, dass jede wissenschaftliche Geschichte, an der ich gearbeitet habe, sehr aufregend gewesen ist. Sodass ich es meist sogar noch über mehrere Jahre hinweg genießen konnte, dass wir etwas Wichtiges herausgefunden haben. Eine der aufregendsten Zeiten war sicherlich das mit den Erdhörnchen. Also da hatten wir eine Idee und als sich dann herauskristallisierte, dass wirklich etwas Wichtiges dahinter stecken könnte - das war schon unglaublich spannend. Am schwierigsten war die Zeit, in der wir über fast eineinhalb Jahre hinweg versucht haben, unsere Erkenntisse von den Erdhörnchen zu publizieren. Dabei ist mir klar geworden, dass es schwierig sein kann, ein Top Journal davon zu überzeugen, dass Winterschlaf haltende Erdhörnchen ein wichtiges Modell sind. Das war zwischendurch unheimlich frustrierend. Hingegen hatte ich jetzt eine Studentin, die gerade in Science Translational Medicne publiziert hat. Das Paper wurde innerhalb von acht Wochen angenommen. So schnell ging es bei mir noch nie. Ich denke, manchmal braucht man ein wenig Glück. Die Editoren müssen die Geschichte mögen. Ups und Downs gibt es in der Wissenschaft immer wieder. Glücklicherweise habe ich noch immer mehr Ups als Downs gehabt.
    Aus Ihrer Publikationsliste geht hervor, dass Sie in sehr angesehenen Journals publiziert haben, wie z.B. "The Cell" oder "Nature". Was würden Sie Nachwuchsforschern raten, wenn sie in der Wissenschaft Fuß fassen wollen?
    Auf einen guten Mentor zu achten. Das ist meiner Meinung nach das A und O, sich jemanden auszusuchen, der einem helfen kann wissenschaftliche Fragen zu stellen, sich Ergebnisse ansieht und ein bisschen über den eigenen Tellerrand hinauszusehen vermag. Es gibt unwahrscheinlich viele Wissenschaftler, die sich um ihre eingegrenzten Probleme kümmern - die auch wichtig und interessant sind. Aber gerade als Mediziner- wenn man neben der Klinik forscht - ist es wichtig einen guten Mentor zu haben, um vielleicht auch eine medizinische Relevanz zu finden. Darüber hinaus sollte man sich ein gutes Labor aussuchen. Ich denke, ich hatte da einfach Glück. Wobei es Leute gibt, die sagen, dass es kein Glück in der Forschung gibt und man nur die Augen offen halten muss, um nachher zu entscheiden, was man macht. Ich denke aber dennoch, dass man ein wenig Glück braucht. Zwar habe ich bisher in guten Journals publiziert. Es gibt allerdings sehr gute Leute in der Forschung, die nicht so hoch publizieren, aber dennoch sehr gute Forschung machen. Insgesamt hatte ich drei Mentoren, einen in Deutschland, einen in Iowa und einen hier am John Hopkins Hospital. Das waren immer Leute, die sich Mühe gegeben haben, dass ich erfolgreich bin. Ich glaube, das braucht man.
    Also jemanden, der einem etwas gönnt und den Erfolg unterstützt?
    Absolut. Das ist gerade in Deutschland oft ein Problem. Da ist man auf einmal junger Assistenzarzt oder junger Oberarzt und dann holt man sich Studenten, die dann an dritte oder vierte Stelle in der Publikation kommen, obwohl sie die Arbeit machen. Das Prinzip gibt es hier nicht. Wer in den USA die Arbeit macht, der bekommt auch die Anerkennung. Also meistens jedenfalls. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen.
    Wenn wir den Blick wieder mehr aufs Klinische richten. Wie schätzen Sie die Zukunft ihres Faches ein?
    Ich denke, dass die Genetik, auf Grund der Technologie, die immer weiter entwickelt wird, das medizinische Weltbild vollständig verändern wird. Ansätze wie die gesamte Sequenzierung des menschlichen Genoms gibt es schon. Die werden bald nur noch 1.000 $ kosten und dann wird das zur Routine werden. Anschließend braucht man Genetiker, die sich klinisch und wissenschaft lich mit der Bedeutung dieser gesamten Daten auseinandersetzen. In Bezug auf den Bereich der Muskelerkrankung, haben wir immer mehr die Möglichkeit, die Erkrankungen genetisch zu defi nieren. Dies trifft aber letztlich auf fast alle Erkrankungen zu. Wenn ich heute Patienten sehe, dann können wir den primären Gendefekt noch nicht therapieren. Aber das wird sich innerhalb der nächsten zehn Jahre verändern. Dann werden wir Gensequenzierungen des gesamten Patientengenoms machen und dort therapeutisch ansetzen. Wenn man die Krankheit verursachenden Gene kennt, wird man die Pathways entschlüsseln und verstehen, warum z.B. ein Kind mit seinen Krampfanfällen auf Keppra (Medikament zur Behandlung von Epilepsie) anspricht und das andere nicht. Wir werden eine ganz andere Medizin im Bereich der genetischen Erkrankungen betreiben können. Ich denke, dass das auch später Auswirkungen auf nicht primär genetische Erkrankungen haben wird. Da bin ich mir sogar recht sicher. Ich glaube, dass die genetische Information, die wir innerhalb der nächsten Jahre anhäufen werden, die komplette medizinische Welt verändern wird - so versuche ich das zumindest meinen Studenten zu verkaufen, um sie davon zu überzeugen in die Genetik zu gehen (lacht). Dann sage ich immer: "Wenn ihr ein Teil dieser Revolution sein wollt, dann solltet ihr jetzt in die Genetik einsteigen".
    Neben Ihrem Beruf haben Sie zu Beginn einmal Ihre Familie erwähnt - dass sie verheiratet sind und drei Kinder haben. Wie fi nden Sie neben all den berufl ichen Verpfl ichtungen Ausgleich?
    Den Ausgleich fi nde ich, indem ich mir die Zeit, die ich brauche, einfach nehme. Ich denke, es gibt viele Kollegen von mir, die sich ununterbrochen nur mit ihrer Arbeit auseinander setzen. Das mache ich nicht. Vielleicht könnte ich mir die Frage stellen, ob ich nicht früher mit meinem Labor hätte publizieren können, wenn ich mich nur noch mehr dafür eingesetzt hätte. Allerdings arbeite ich schon relativ viel. An den Wochenenden versuche ich so wenig wie möglich zu arbeiten und wenn ich abends nach Hause komme, dann versuche ich rechtzeitig zu Hause zu sein, um mit meinen Kindern Abend zu essen und mich um die Hausaufgaben kümmern zu können. Wenn es dann mal ganz wichtig ist, setze ich mich abends Zuhause nochmal hin und arbeite. Also ich nehme mir ganz bewusst die Zeit und weiß auch, dass ich mir dadurch vielleicht hier und da etwas Zeit für den berufl ichen Erfolg wegnehme. Aber am Ende des Tages bringt es mir nichts, wenn ich den Nobelpreis erhalte und dafür meine Kinder nicht wissen wer ich bin. Das ist natürlich eine sehr persönliche Entscheidung. Ich muss sagen, dass ich viele Leute kenne - sowohl in Deutschland als auch in den USA- denen die Karriere wichtiger gewesen ist. Ich möchte jetzt auch nicht den Eindruck hinterlassen, dass ich nicht ehrgeizig bin. Natürlich kümmere ich mich sehr viel um meine Karriere. Es ist mir aber einfach wichtig, dass ich eine gute Beziehung zu meinen Kindern aufb aue und ich glaube, dass schätzen sie sehr
    Was sind Ihre persönlichen Ziele für die Zukunft ?
    Ich möchte schon versuchen, Leiter einer Klinik zu werden, sodass ich meine Philosophie von der Kinderheilkunde und der Genetik auf ein ganzes Department übertragen kann. Dies ist eine gesunde Mischung aus Interesse an Wissenschaft , Klinik und dass man jungen Leuten beibringen kann, wie man mit Patienten und Familien umgeht. Das ist mein Ziel. Dazu gehört auch, Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass es mir wichtig ist, dass sie Erfolg haben aber gleichzeitig auch Rücksicht auf Ihr Privatleben haben. Wenn es Zuhause nicht funktioniert, dann will ich sie auch nicht in der Arbeit sehen. Das habe ich von meinem Mentor in Iowa gelernt, der als einer der führenden Wissenschaft ler im Bereich der Muskeldystrophien sehr erfolgreich ist und dennoch ein hervorragendes Familienleben hat. So sehr man bei ihm auch unter Druck stand -und das war wirklich ein hoher Druck (lacht) -konnte man sich sofort darum kümmern, wenn irgendetwas mit der Familie war. Da gab es keine Diskussion. Es gibt viele Dinge, die neben der Wissenschaft wichtig sind. Die Familie, aber beispielsweise auch die Art und Weise, wie man mit Patienten und deren Familienangehörigen umgeht.
    Das klingt für mich nach einem humanistischen Ansatz, der heute in der von ökonomischen Interessen dominierten Medizin kaum noch zu fi nden ist.
    Ja, da haben sie recht. Umso wichtiger ist es mir, dass von einer Führungsposition aus vorleben zu können.
    Gibt es ihrer Meinung nach etwas wie eine "goldene Regeln" in Bezug auf den medizinischen Lebensweg, die Sie Studierenden mit auf den Weg geben würden?
    Dass man sich für das entscheiden sollte, für das man am meisten Hingabe hat. Also was einem am meisten Spaß und am meisten Vollendung bringt. Dem soll man nachgehen. Wenn man das macht, dann wird man auch erfolgreich sein. Sicherlich, diesen Bereich muss man erst fi nden und es gibt Menschen, die ihn schnell fi nden und andere müssen länger danach suchen.
    Dominic Geßler